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Ilja Seifert

Alle kochen mit Wasser.

Bei

     manchen

       schmeckt´s.

(16. November 1993) Erstveröffentlichung in "Sintflut verhindern – mauergewöhnt". Ein NachWendeBuch von Ilja Seifert und Christian Schröder; Berlin 1995

 

Ilja Seifert

Be-Sonder-liches

Jede/r ist etwas Besonderes. –

Besonders ich.

oder:

Jede/r ist etwas Besonderes. –

            Besonders Du.

und:

Jede/r ißt etwas Besonders.

            Jede/r braucht Besonderes.

                        Jede/r möchte Besonderes.

                                   Jede/r träumt Besonderes.

also:

Es ist nichts besonderes,

etwas Besonderes zu sein.

darum:

Sonder-Regelungen für alle!

und:

Sonder-Regelungen für jede/n!

(22. Juni 1995) Erstveröffentlichung in: "Manche denken sogar selbst – schon dreimal krähte der Hahn". WendeNachLese – NachWendeLese. Berlin 1998 

 

Ilja Seifert

            Als Wecker fühlt man sich gekränkt,

Wenn einer schläft und dabei denkt:

Reiß´  du nur pünktlich mich hinan,

Ich stell´ mich dumm – und dich voran.

            Dann klingelt er zur nächsten Stundt´.

Und gähnend öffnet sich der Mund.

Man dreht sich noch mal `rum im Bett:

In einer Stunde, sei so nett.

            Ein Wecker hat auch seine Ehre.

Als wenn es selbstverständlich wäre

Ruft er erneut uns aus dem Schlaf,

Zu der Minute, die ich traf.

            Als Wecker fühlt´ ich mich gekränkt,

Wenn einer pennt und launisch denkt:

Ich stell´ ihn allemal dahin.

Zum Aufstehn fehlt mir jeder Sinn . . .

(26. Januar 2003)

 

Ilja Seifert

Die Alpen sind

Nicht für mich gefaltet. Berge

Verweigern

Dem Rollstuhl

Den weg. Aufwärts

Nicht anders

Als abwärts. – Trotzdem

War ich da.

 

Venedig ist

Nicht für mich gebaut. Kanäle

Tragen

Den Rollstuhl

Nicht. Und viele Brücken

Sind stufig. – Dennoch

War ich da.

 

Freunde

Traf ich und

Weniger

Erfreute. Die Welt ist

Nicht eingestellt

Auf mich, auf

Meine Lebensweise. – Aber

Ich

    bin

        da!

(15. August 1991) Erstveröffentlichung in "Sieger lernen nicht – alle sind alle". Ein Wendebuch von Ilja Seifert und Christian Schröder. Mit Zeichnung von Heidrun Hegewald. Berlin 1992)

 

Ilja Seifert

 

Die Intensität,

mit der ich um eine Frau

kämpfe,

zeigt nicht die Größe

meiner Liebe

zu ihr,

sondern die

meiner

Eitelkeit.



(21. Juli 1996) Erstveröffentlichung in: "Manche denken sogar selbst – schon dreimal krähte der Hahn". WendeNachLese – NachWendeLese. Berlin 1998 

 

Ilja Seifert

Ein Mensch entdeckt - so um die zwanzig -:

Altes Denken ist nicht ranzig.“

 

Ich denke“, sagt er, „also bin ich“

Und findet diesen Spruch recht sinnig.

 

Das klingt nicht neu, er weiß es lange,

Für ihn jedoch ist es die Stange,

 

Mit der er stochern kann im Nebel

Und die er nutzt, wie einen Hebel.

 

Er braucht jetzt nicht mehr „Trendklamotten“,

Und keine teuren Markenbotten.

 

Er fühlt dazugehörig sich

Der Welt als Ganzes - und dem Ich.

 

Das Alte, merkt allmählich er,

Ist ziemlich neu, nimmt man es her,

 

Sucht einen eignen Zugangsweg,

Empfindet ihn als Privileg,

 

Und weiß doch, daß millionenfach

Die Welt entsteht an jedem Tach

 

In jungen Köpfen, wie dem seinen,

Die schließlich jeder einzeln meinen:

 

Die Alten können mich zwar lenken,

Doch bin ich da zum selber denken!“

(20. März 1999) Erstveröffentlichung in: Ija Seifert / Christian Schröder: Irrgarten zerstören / scheinen will mir zukunft. Ein AbWendeBüchlein. Berlin 1999

 

Ilja Seifert

Gestern träumte

Mir

Vom Frieden. Kein

Rauschendes Fest, sondern

Tätiges Sein

Für Jede/n und

Hausung und

Satt

Und Wein.

 

Heute träumte

Mir

Vom Rollstuhl. Schnell

Konnt´ ich fahren und

Zupacken fest

Die Hand, nicht

Länger

Gelähmt wie

Die Beine.

(17. März 1993) Erstveröffentlichung in "Sintflut verhindern – mauergewöhnt". Ein NachWendeBuch von Ilja Seifert und Christian Schröder; Berlin 1995

 

Ilja Seifert

Gezogen von hundert Pferden

Rasen wir

Zielen entgegen. Vergessen

Fast

Das Reisen. Vorbei

Fließt,

Von Scheibenwischerfrequenzen

Zerteilt, Grün

In schattigen Nuancen. Nur

Vom Asphalt

Schleudert Regen noch

Auf. Märchenhaft

Weitet sich

Die Schlucht. Schwaden

Dampfen aus

Wäldern in einen flüchtigen

Blick

Des gehetzten Fahrers: Vielleicht

Lieben Elfen

Sich dort mit

Kobolden? – Vielleicht

Denkt

Neben mir ähnliches

Die Frau? – Vielleicht

Ist weniger wichtig

Unser Ziel,

Als der Busch

Neben dem Waldweg? –

 

Gezügelt

Schauen hundert Pferde – diskret

Der Koppel zugewandt – auf

Warmblüter, Schwaden und Waldgrün.

Genießen heißblütige

Rast. 

28. Juni 1999) Erstveröffentlichung in: "Irrgarten zerstören – scheinen will mir zukunft". Ein AbWendeBüchlein. Berlin 1999

 

Ilja Seifert

Grund(ge)sa(e)tzliches

Die Würde des Menschen ist unantastbar. (Art. 1, Satz 1)

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (Art. 3, Satz 1)

Eigentum verpflichtet. (Art. 14, Abs. 2, Satz 1)

 

Das Maß der Würde liegt in der Kreditwürdigkeit.

Ohne Bonität keine Würde.

Die Würde jedes einzelnen Menschen ist am Bankschalter zu erfragen.

 

Das Gesetz gilt nur für Menschen.

Ohne Kredit sind alle gleich un-würdig.

Nicht-Menschen stehen außerhalb des Gesetzes.

 

Eigentum ist Sicherheit – für die Bank.

Die Pflicht besteht in der Mehrung der Kredit-Würde.

Gesetzesmenschen mehren die Würde – des Eigentums.

(6. Juni 1993) Erstveröffentlichung in "Sintflut verhindern – mauergewöhnt". Ein NachWendeBuch von Ilja Seifert und Christian Schröder; Berlin 1995

 

 lja Seifert

ICH     –          FEHLER       –          QUELLE

Als Atheist                 fehlt                 mir die höchste Instanz.

Als Materialist           fehlt                 mir der innere Antrieb.

Als Utopist                 fehlt                 mir die äußerste Grenze.

Als Realist                 fehlt                 es mir an Phantasie.

Als Philosoph            fehlt                 mir viel Praxis.

Als Politiker               fehlt                 mir Machtwille.

Als Chef                     fehlt                 es mir an Schneid.

Als Poet                     fehlt                 mir Fleiß.

Als Mann                   fehlt                 mir das Mütterliche.

Als Sozialist              fehlt                 mir Wissenschaftlichkeit.

Als Rollstuhlfahrer     fehlt                 meinen Beinen Beweglichkeit.

Als Organisator        fehlt                 mir die Exaktheit.

Als Visionär              fehlt                 es an Charisma.

Als Seelsorger          fehlt                 mir die Weihe.

Als Wissenschaftler fehlt                 es mir an Geduld.

Als Linker                  mangelt          es an Rechthaberei.

Als Mitarbeiter          fehlt                 mir Spontaneität.

Als Liebhaber           fehlt                 manchmal Potenz.

Als Sohn                    fehlt                 mir Toleranz.

Als Freund                 fehlt                 es an Güte.

Zum Feind                 fehlt                 mir die Lust.

Als Genosse             fehlt                 es mir an allem.

Als Vater                   fehlt                 es mir an Zeit.

Warum nur

            definiere ich

                               mich

                                      ausschließlich

                                                           über meine Fehler?      

Erstveröffentlichung in: "Ich riech´ nun mal nach Mensch." Sonette und andere UnArtigkeiten. Berlin 2001

 

Ilja Seifert

Ich riech´

Nun mal nur selten

Nach Wässerlein von Hogo Boss

Oder sonstnochwem.

 

Ich riech´

Nun mal

Nach Mensch. –

Na und?

(9. Januar 1999) Erstveröffentlichung in: "Irrgarten zerstören – scheinen will mir zukunft". Ein AbWendeBüchlein. Berlin 1999 

 

Ilja Seifert

Zitronenfalter falten Zitronen.

Fußballer ballen die Füße.

Behinderte behindern.

Kanzler kanzeln ab.

Obdachlose losen ob eines Daches.

 

Obdachlose kanzeln Zitronenfalter ab.

Kanzler ballen ein Dach.

Fußballer losen ob einer Zitrone.

Behinderte falten die Füße.

Zitronenkanzler behindern das Abkanzeln.

 

Mit geballten Füßen

Falten

Unter losem Dach

Behinderte

Fußballernde

Kanzler

Zu Zitronen.

(8. August 1992) Erstveröffentlichung in "Sieger lernen nicht – alle sind alle". Ein Wendebuch von Ilja Seifert und Christian Schröder. Mit Zeichnung von Heidrun Hegewald. Berlin 1992)

 

Ilja Seifert

Kein Stern fiel,

Zu erfüllen

Meinen Wunsch,

Vom Himmel heute

Nacht für uns. Nur

Ein Flugzeug

Blinkte – doch

Vielleicht

Ist es den

Sternen schnuppe?

(8. August 1992) Erstveröffentlichung in "Sieger lernen nicht – alle sind alle". Ein Wendebuch von Ilja Seifert und Christian Schröder. Mit Zeichnung von Heidrun Hegewald. Berlin 1992)

 

Ilja Seifert

So sicher

ich weiß,

Daß es

ewige

Wahrheiten

Nicht gibt,

So sicher

weiß ich,

Daß wir

dennoch

einige

dringend                   

brauchen.

(1. April 2001)

 

Ilja Seifert

Wenn ein einzelner einem Irrgarten

Entkommt,

Mag er

Gerettet sein.

 

Wenn er

Der Menschheit

Helfen will,

Muß er den Irrgarten zerstören.

 

Was aber

Bleibt übrig:

Garten

            oder

                   Irre?

(3. / 19. September 1995) Erstveröffentlichung in: "Irrgarten zerstören – scheinen will mir zukunft". Ein AbWendeBüchlein. Berlin 1999 

 

Ilja Seifert

Wer auf dem Mond

Hinterm Mond

Wohnt,

Weiß gar nicht, wie sichs lohnt,

Um den Mond herum zu gehen

Und auf die Erde - blau - zu sehen.

(25. Februar 2000)

 

Ilja Seifert

Das Ding

Ein DING steht in der Gegend `rum

Und niemand dreht sich nach IHM um.

Das DING denkt, das ist wirklich dumm.

ICH steh´  hier in der Gegend  `rum,

Und keiner blickt sich nach mir um.

Drum

Fiel ES um.

Mit lautem "Bumm!"

Und jeder schaut sich fragend um:

WAS stand da in der Gegend  `rum?

WAS fiel da um?

Mit lautem "Bumm!"?

Es ist tatsächlich gar zu dumm.

Das DING stand in der Gegend  `rum

Und fiel nun um

Mit lautem "Bumm!"

Jetzt fehlt ES – und man fragt: Warum?

(26. Juli / 10. August 1994 Erstveröffentlichung in "Sintflut verhindern – mauergewöhnt". Ein NachWendeBuch von Ilja Seifert und Christian Schröder; Berlin 1995

 

Ilja Seifert

Ein Weiser mit Hunger

Als Magier in der Gegend stundt´

Und tat den Leuten manches kundt´.

Zum Beispiel: Unsre Welt ist rund.

Und:

Schlaget niemals euren Hund.

Und:

Verliebte sehen Nebel bunt.

Und:

Des Cheops Grab man noch nicht fundt´.

Und:

In manchen Büchern steht viel Schund.

Und:

Wer Bomben ausklingt, bleibt gesund.

Und:

Ein Narr hält niemals seinen Mund.

Und:

Gebt mir ein Bakschisch für die Stundt´ . . .

(26./27. Dezember 1994) Erstveröffentlichung in "Sintflut verhindern – mauergewöhnt". Ein NachWendeBuch von Ilja Seifert und Christian Schröder; Berlin 1995

 

Ilja Seifert

Wer keine Arche bauen kann,

muß die Sintflut

                        verhindern.

(28. September 1994) Erstveröffentlichung in "Sintflut verhindern – mauergewöhnt". Ein NachWendeBuch von Ilja Seifert und Christian Schröder; Berlin 1995

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Tübingen zum Ersten

 

"Puppenstube"

            denkt es mir und

                        ich weiß nicht, ob

Das erlaubt ist einem Gaste, wohlgelitten. Mit

            beweglichen Püppchen

                        im Yuppie-Look,

                                   als Punkchen,

                                               als Glätzchen,

                                                           auch als Stinolein.

 

Verkleidet viele

            als Studiosi, besteigen

                        Büsschen, sitzen

                                   auf Kirchentreppchen, schnorren

                                               um ein Gröschchen, belästigen

                                                           Fußgängerchen mit Fahrrädchen.

 

Unter der Platane,

            dreiviertelentfaltet, fühle

                        ich mich wohl in Café, bin

                                   touristenähnlicher Teil dieser

                                               Puppenwelt, herzlich empfangen, und

 

Frage mich,

            ob es mir so

                        denken

                                   soll.

 

 
(12./14.5.1998)


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